“Als ein Schriftgelehrter Jesus einmal fragte, […]was nach seiner Meinung das grüßte Gebot im Gesetz sei, sagte er, es sei die Liebe zu Gott. Das zweite Gebot, man solle seinen Nächsten genauso lieben wie sich selbst, sei jedoch dem ersten gleich. Offenbar ging er davon aus, dass jeder sich selbst liebt; Menschenkenntnis war nicht gerade seine Stärke. In dieser Hinsicht mußte man erst noch auf den Juden aus Wien warten. Wer sich selbst nicht liebte oder gar hasste, durfte also dem zweiten ‚Wort’ zufolge auch seine Mitmenschen hassen, man durfte morden, wenn man dann auch Selbstmord verübte wie Judas oder Hitler. Von der Hölle hatte Jesus offenbar keine Ahnung, aber das war eigentlich klar: schließlich war er ein Wesen, das Gott liebte wie sich selbst. Aber der Kern seiner Antwort lag im Ist-Gleich-Zeichen, das er zwischen die fünf Gebote auf der einen und die fünf auf der anderen Tafel setzte; eines Tages formulierte er sogar eine positive Version der Goldenen Regel: ‚Was Du willst, das man dir tu, das füge auch dem andern zu, denn das ist das Gesetz und die Propheten.”
“Wie jeder Mensch hat auch ein Buchstabe eine Seele und einen Körper. Seine Seele ist das, was er sagt, und sein Körper ist das, woraus er gemacht ist: aus Tinte oder aus Stein.”
“In der Morgensonne schlenderte er über den Kurfürstendamm, kaufte sich an einem Kiosk einen Baedeker und nahm ein Taxi zum verwüsteten Reichstag, wo man emsig an der Restaurierung arbeite. Das Gebäude war barhäuptig: die große Mittelkuppel – Bismarcks Helm – war verschwunden, und als er sich umdrehte, sah er am anderen Ende der großen Wiese im Tiergarten das neue Kongreßzentrum, das exakt die Form von Hitlers Mütze hatte.”
“Dieser junge Bursche, der sich in einem Alter nach Jerusalem begibt, in dem die meisten seiner Gefährten sich kaum erst vor das eigene Tor wagen, ist vielleicht nicht gerade ein Adler an Scharfsinn, kein Ausbund an Intelligenz, unsere Achtung verdient er aber dennoch, er trägt, wie es selbst erklärte, eine Wunde in der Seele, und da seine Natur es ihm verwehrt, darauf zu warten, dass die schlichte Gewohnheit, mit ihr zu leben, diese heilte, bis sie sich in gutgewillter Vernarbung schlösse, die im Nichtdenken besteht, begab er sich statt dessen auf die Suche nach der Welt, um, wer weiß, die Wunden vielleicht zu vervielfachen und aus ihnen allen einen einzigen und endgültigen Schmerz zu bereiten.”
“Ihm gefiel nicht das, was er las, sondern eher das Lesen an sich, oder besser gesagt, der Prozess des Lesens selbst, wo sich da doch immerzu aus den Buchstaben irgendein Wort ergibt, das manchmal weiß der Teufel was bedeutet. Dieses Lesen wurde gemeinhin im Vorraum auf dem Bett im liegenden Zustand vollzogen, auf der Matratze, die infolge dieses Umstands so hart und fest wie ein Fladen geworden war.”
“Aber er fragte sich auch, wohin man geraten mochte, wenn man an der Verlässlichkeit seines eigenen Verstandes zu zweifeln begann. Wonach sollte man sich richten, wenn nirgends eine greifbare Wegmarke den Horizont in messbare Abschnitte gliederte? Das würde sein, als ritte man ohne Weg und Ziel über die grenzenlose Steppe, und selbst dort gab es ja noch das ewig kreisende Muster der Gestirne, das dem Kundigen die Richtung wies, wenn er bereit war, sich den Gesetzen ihrer Bewegung anzuvertrauen. Was aber, wenn diese Lichtpunkte einmal ihre geregelte Bahn verlassen sollten? Wer sagt einem, dass sie dies nicht schon längst getan hatten, ohne dass man es hätte merken können?”
“In die Natur hineingehen und in dieser Natur ein- und ausatmen und in dieser Natur nichts als tatsächlich und für immer Zuhause zu sein, das empfände er als das höchste Glück. In den Wald gehen, tief in den Wald hinein, sagte der Burgschauspieler, sich gänzlich dem Wald überlassen, das ist es immer gewesen, der Gedanke, nichts anderes, als selbst Natur zu sein.”