“Wer sich in Berlin als Immobilienmakler zu erkennen gibt, sollte sich nicht über die Frage wundern: "Und, kann man davon leben?" Denn es ist nicht so wie in anderen Metropolen, wo ein Mangel verwaltet wird und ein Immobilienmakler darum allein auf der Basis von Bedarf und Frechheit sein Dasein fristen kann.Irgendeine eigene Geschäftsidee muss man hier schon haben, denn eine überteuerte, kleine Wohnung in schlechter Lage, wie sie sonst das Hauptgeschäft dieser Branche ausmacht, findet in Berlin auch noch das blindeste Huhn.”
“Außerdem mag der Berliner die Leute von außerhalb nicht so besonders. Die Brandenburger sind ihm zu ländlich, die Hamburger zu städtisch, die Rheinländer zu fröhlich, die Bayern zu griesgrämig. Mit den Sachsen verbindet ihn eine jahrhundertealte Feindschaft, die beide Seiten liebevoll pflegen. So stehen Berliner Fußballfans gerne volltrunken auf irgendeinem Bahnhof und brüllen lauthals in Richtung des vermeintlichen Gegners den beliebten Schlachtgesang: "Ihr seid nicht aus Berlin, nicht aus Berlin, nicht aus Berlin!" In Wirklichkeit ist dies vielleicht einer der friedlichsten Fußballgesänge überhaupt. Die Sänger denken "Ja!" und sind zufrieden. Aber die Besungenen denken auch "Ja!" und sind womöglich noch zufriedener.”
“Im Übrigen zählen seit einigen Jahren wohl auch die Festspiele am 1. Mai zu dieser Art von Touristenattraktion. Wohlstandskinder aus dem ganzen Land reisen mit selbstgebastelten Molotow-Cocktails nach Kreuzberg, und weil es dort keine Randale gibt, machen sie sich die auch noch selbst. Die Berliner Polizei nutzt die Gelegenheit, Kollegen aus dem ganzen Land zur Unterstützung einzuladen, und mit etwas Glück stehen dann frustrierte westfälische Jugendliche frustrierten westfälischen Polizisten auf dem Oranienplatz gegenüber. Die meisten Kreuzberger sind diesen Zirkus ziemlich leid und wünschten, die betreffenden Paarungen würden sich gleich in Bielefeld auf dem Bahnhof kloppen und dann zu Hause bleiben.”
“Ein Junge und ein Mädchen liegen auf dem Boden, vor sich die Dachschräge. Sie konzentriert sich auf den Jungen, der aus dieser Entfernung so aussieht, als wäre er in ihrem Alter. Und selbst aus dieser Entfernung kann sie erkennen, dass das Buch, aus dem er ihr vorliest, "Das Buch der Begebenheiten" ist.Der Junge schläft ein, und das Mädchen legt den Kopf auf seine Brust. Brod will mehr hören - sie will schreien: LIES MIR WEITER VOR! ICH MUSS ES WISSEN! -, aber sie können sie von dort, wo sie ist, nicht hören, und von dort, wo sie ist, kann sie die Seite nicht umblättern. Die Seite - Brods papierdünne Zukunft - ist, von dort, wo Brod ist, unendlich schwer.”
“Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grund gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch „Skizze“ ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.Einmal ist keinmal, sagt sich Tomas. Wenn man ohnehin nur einmal leben darf, so ist es, als lebe man überhaupt nicht.”
“Im Grunde genommen geht es immer noch um den Satz, den ich damals auf meinen Gaderobespiegel geschrieben habe und dessen Ende weggewischt hatte: "Ich passe auf mich auf, aber falls mir etwas passieren sollte..."Die Sache ist die, dass man das nicht einfach wegwischen kann. Falls man nicht gerade beschlossen hat, blind und feig durchs Leben zu gehen, muss man eine Antwort finden auf die Frage, wie dieser Satz weitergehen soll. Und man kann die Frage, was man sich wünscht für die Zeit nach seinem Tod, nicht beantworten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was man sich wahrhaft wünscht für die Zeit davor.”
“Vermutlich ist das eine Frage, die sich nicht einfach als richtig oder falsch beantworten lässt. Schliesslich gibt es in der Welt falsche Entscheidungen, die richtige Ergebnisse, und auch richtige Entscheidungen, die falsche Ergebnisse zur Folge haben. Um solcher, nennen wir es ruhig: Absurdität zu entgehen, muss man sich auf den Standpunkt stellen, dass man in Wahrheit nicht, aber auch nichts entscheidet, und im Grossen und Ganzen denke und lebe ich danach. Was geschieht, das geschieht, und was nicht, eben nicht.”