“Dieser junge Bursche, der sich in einem Alter nach Jerusalem begibt, in dem die meisten seiner Gefährten sich kaum erst vor das eigene Tor wagen, ist vielleicht nicht gerade ein Adler an Scharfsinn, kein Ausbund an Intelligenz, unsere Achtung verdient er aber dennoch, er trägt, wie es selbst erklärte, eine Wunde in der Seele, und da seine Natur es ihm verwehrt, darauf zu warten, dass die schlichte Gewohnheit, mit ihr zu leben, diese heilte, bis sie sich in gutgewillter Vernarbung schlösse, die im Nichtdenken besteht, begab er sich statt dessen auf die Suche nach der Welt, um, wer weiß, die Wunden vielleicht zu vervielfachen und aus ihnen allen einen einzigen und endgültigen Schmerz zu bereiten.”
“Es ist ein Hin- und Hergerissensein zwischen Verheimlichung und Offenherzigkeit, zwischen dem Wunsch, die Wahrheit zu sagen, und dem Unvermögen, es auch in den intimsten Situationen zu tun; es ist die Erkenntnis, dass das Wesen der Liebe Wissen ist und das Ringen mit der Angst, mit der so großen Angst, sich eine Blöße zu geben. Wer schreibt, greift mit dem Stift nach der Macht, weil die Ohnmacht so unerträglich groß ist. Wer schreibt, hört für eine Weile auf, sich selbst Gewalt anzutun, zu leugnen, zu lügen, zu verschleiern und sich zu verstellen, hört mit all dem auf, wozu er sich gezwungen sieht, sobald die Angst zuschlägt was ein anderer mit ihm machen könnte. (Seite 38 / 39)”
“Als ein Schriftgelehrter Jesus einmal fragte, […]was nach seiner Meinung das grüßte Gebot im Gesetz sei, sagte er, es sei die Liebe zu Gott. Das zweite Gebot, man solle seinen Nächsten genauso lieben wie sich selbst, sei jedoch dem ersten gleich. Offenbar ging er davon aus, dass jeder sich selbst liebt; Menschenkenntnis war nicht gerade seine Stärke. In dieser Hinsicht mußte man erst noch auf den Juden aus Wien warten. Wer sich selbst nicht liebte oder gar hasste, durfte also dem zweiten ‚Wort’ zufolge auch seine Mitmenschen hassen, man durfte morden, wenn man dann auch Selbstmord verübte wie Judas oder Hitler. Von der Hölle hatte Jesus offenbar keine Ahnung, aber das war eigentlich klar: schließlich war er ein Wesen, das Gott liebte wie sich selbst. Aber der Kern seiner Antwort lag im Ist-Gleich-Zeichen, das er zwischen die fünf Gebote auf der einen und die fünf auf der anderen Tafel setzte; eines Tages formulierte er sogar eine positive Version der Goldenen Regel: ‚Was Du willst, das man dir tu, das füge auch dem andern zu, denn das ist das Gesetz und die Propheten.”
“Die Welt, wie sie sein sollte. Vollkommen und sinnhaft auch im Schmerz, in der Tragödie. Danach hatte er gestrebt: Er hatte dem Leben einen Sinn verleihen und es weniger zufällig machen wollen. Denn die Vollkommenheit bestand nicht darin, Erfolg zu haben, etwas zu schaffen oder einen Traum wahr zu machen, sondern in der Sinnhaftigkeit. So hatten in seiner Geschichte auch die Bösen ihren Sinn gefunden. Und jedes Leben war mit den Anderen verwoben wie die Fäden eines Spinnennetzes, die sich alle miteinander zu einem übergeordneten Ganzen verbanden.”
“Feen”, erklärte er bereitwillig. “Das versteckte Volk. Die Wesen, die sich gemeinhin am Rande Ihres Gesichtsfelds verbergen und Schabernack mit dieser Welt treiben. Ihre bloße Anwesenheit reicht meistens aus, unsere liebgewonnene Ordnung auf den Kopf zu stellen, denn sehen Sie, unsere Welt ist so voller Beschränkungen! Sie können von einer Fee genauso wenig erwarten, dass sie sich in dieser Welt ausdrückt, wie Sie Monet bitten könnten, mit Kohle und Schmierpapier einen Lilienteich zu malen. Sie prägen sich unserer Wirklichkeit auf wie die Füße eines Wasserläufers, und Kreise wachsen auf ihrem Weg über den Teich, aber Sie erhaschen nie einen Blick auf das Wesen, das sie hinterlässt. Das heißt, bis heute, lieber Freund.”
“Auf ihrer Suche nach der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit kamen die brahmanischen Denker zu dem Schluss, dass das von ihnen wahrgenommene Gegensatzpaar nicht das Wesen der Dinge, sondern das Wesen des wahrnehmenden Geistes widerspiegelt. Das wahrnehmende Denken muss sich selbst transzendieren, um die wahre Wirklichkeit zu erreichen. Der Widerspruch ist eine Kategorie des menschlichen Geistes und nicht an und für sich ein Element der Wirklichkeit.”