“[Wir] dürfen annehmen, dass ein Mensch, wann immer er lebt oder lebte, dem Menschen einer beliebig anderen Epoche geistig gesehen Zeitgenosse ist. Die bekannten einzigen und unbezweifelbaren Ausnahmen waren Adam und Eva, nicht weil Adam der erste Mann und Eva das erste Weib gewesen, sondern weil sie keine Kindheit hatten.”
“Er erlebte die Stadt wie einen Wald. Er dachte: Sie liegt nicht auf einer Insel, sie ist die Insel. Sie ist nicht in eine Landschaft gebaut, sondern ist die Landschaft. Eine Landschaft von steinerner Vegetation, die den Menschen nicht gehört, in die sie erst Schneisen schlagen und in der sie ihre Wohnungen erst begründen müssen. Die Schneisen und Wohnorte können von der Vegetation auch wieder eingeholt und überwuchert werden. Manchmal stieß er auf abgerissene Häusergevierte, Trümmergrundstücke, Fassaden mit leeren oder vermauerten Türen und Fenstern – wie vom Krieg verwüstet, und weil es keinen Krieg gegeben hatte, wie von der Natur ergriffen. diesmal nicht der wuchernden des Waldes, sondern der wütenden eines Erdbebens. Und wie wachsende Kristalle die hochstrebenden neuen Bauten.”
“Der Mond wird doch gewöhnlich in Hamburg hergestellt, und zwar sehr nachlässig. Ich wundere mich, dass England dem keine Aufmerksamkeit schenkt. Ein lahmer Böttcher stellt ihn her, und der Dummkopf hat offenbar keine Ahnung vom Mond. Er nimmt geteertes Tauwerk und einen Teil Baumöl, und davon verbreitet sich über die Erde entsetzlicher Gestank, so dass man die Nase zustopfen muss. Und daher ist der Mond eine so zerbrechliche Kugel, auf der kein Mensch leben kann, auf der nur Nasen leben. Und deshalb können wir unsere Nasen selber nicht sehen, weil sie sich auf dem Mond befinden.”
“Vielleicht gibt es ja gar keine tollen, wunderbaren Menschen. Und wir reden es uns für eine kurze Weile nur ein, dass der oder der toll und wunderbar ist, damit wir einen Grund haben, uns in ihn zu verlieben. Sozusagen ein Alibi für die Liebe.”
“Die Einsamkeit des Künstlers, überhaupt des begabten Menschen, halte ich für unvermeidlich, einerlei, ob einer Glück und Erfolg hat oder nicht. Ebenso begreiflich und im Grund richtig scheint mir, daß der Begabte, der Mensch mit Phantasie, diese Einsamkeit möglichst dissimuliert. Denn so unvermeidlich es ist, daß der Mann mit Talent früher oder später die öde, traurige Beschränktheit des Durchschnittsmenschen bemerkt, so sehr muß er sich gegen diese Einsicht wehren, weil sie am Ende zu einer Lieblosigkeit und Menschenverachtung führen würde, die er auch nicht ertrüge. Aber die große, oft eisige Einsamkeit des Künstlers oder Denkers inmitten der Dutzendmenschen ist, ob verheimlicht oder nicht, immer da, sie ist der Preis, den wir dafür zahlen, daß wir vor jenen manches voraus haben.”
“Olaf hielt sich keineswegs für etwas Besonderes; seine Heavy-Metal-Kutte und die schwarzen T-Shirts mit grellbunten Aufschriften trug er nicht aus einem Grund, den man vor zehn oder zwanzig Jahren in den Kategorien von Identitätsstiftung, Sozialisierung und Jugendkultur erfasst hätte, sondern weil sie zu der Musik gehörten, die er mochte, und weil andere Klamotten ihm nicht gefielen. Aber 'Divergenz' bedeutete 'Auseinanderstreben', und Olaf strebte auseinander.Zwischen anderen Menschen und vor allem innerhalb der so genannten Klassengemeinschaft fühlte er sich wie ein Europäer unter Japanern: Alle sahen gleich aus, betrachteten einen als Gaijin, und zum Schluss erfuhr man, dass sie Koreaner waren. [...] er wusste nicht, worüber er mit ihnen reden sollte, und wunderte sich an manchen Tagen darüber, dass sie überhaupt dieselbe Sprache verwendeten wie er. Seine Unfähigkeit, sich als einer von ihnen zu fühlen, war Divergenz - und in deprimierten Momenten 'Inkompatibilität'.”