“Das Gehirn versandete wie ein unbefestigtes Flussbett. Erst bröckelte es nur ein bisschen vom Rand, dann klatschten große Stücke des Ufers ins Wasser. Der Fluss verlor seine Form und Strömung, seine Selbstverständlichkeit. Schließlich floss gar nichts mehr, sondern schwappte nur hilflos nach allen Seiten. Weiße Ablagerungen im Gehirn ließen die elektrischen Ladungen nicht durch, alle Enden wurden isoliert, und am Ende auch der Mensch; Isolation, Insel, Gerinnsel, England, Elektronen und Tante Ingas Bernsteinreifen, Harz wurde hart im Wasser, Wasser wurde hart, wenn der Frost klirrte, Glas war aus Silizium, und Silizium war Sand, und Sand rieselte durch die Eieruhr, und ich sollte jetzt schlafen, es wurde langsam Zeit. (S. 78f.)”
“Wie wahr waren Geschichten, die einem erzählt wurden, und wie wahr die, die ich mir selbst aus Erinnerungen, Vermutungen, Phantasien und heimlich Erlauschtem zusammenreimte? Manchmal wurden erfundene Geschichten im Nachhinein wahr, und manche Geschichten erfanden Wahrheit.Die Wahrheit war eng verwandt mit dem Vergessen, das wusste ich, denn Wörterbücher, Enzyklopädien, Kataloge und andere Nachschlagewerke las ich ja noch. Im griechischen Wort für Wahrheit, aletheia, floss versteckt der Unterwelt-Strom Lethe. Wer das Wasser dieses Flusses trank, legte seine Erinnerungen ab wie zuvor seine sterbliche Hülle und bereitete sich so auf sein Leben im Schattenreich vor. Damit war die Wahrheit das Unvergessene. Aber war es sinnvoll, die Wahrheit ausgerechnet dort zu suchen, wo das Vergessen nicht war? Versteckte sich die Wahrheit nicht mit Vorliebe in den Ritzen und Löchern des Gedächtnisses? Mit Wörtern kam ich auch nicht weiter. (S. 193)”
“Wie viele Säcke Sand mag mein Leben umfassen? Langsam und stetig rieselt er durch eine kleine Öffnung zwischen zwei Kugeln. Wieviel ist verbraucht? Ist unten schon mehr Sand als oben? Und wenn ich jetzt tödlich getroffen werde, rutscht dann der restliche Sand auf einen Schub hinunter und alles ist vorbei? Wieviel Sand hat ein Mensch für sein Leben zur Verfügung? Man müsste gleich am Anfang darauf hingewiesen werden: Dies ist dein Anteil. Vergiss nicht, dass der Sand keine Sekunde lang aufhört zu rieseln.Ich weiß nicht, wie viele Säcke mein Leben ausmachen. Warum genügen sie nicht, um eine Barrikade zu errichten, die mich vor Überfällen, allem Ungewissen und der Vergänglichkeit des Lebens schützt?”
“Der chronisch Verbitterte bemerkte seine Krankheit nur einmal in der Woche: am Sonntagnachmittag. Dann, wenn weder seine Arbeit noch die Routine ihm halfen, die Symptome zu lindern, bemerkte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Denn der Frieden dieser Nachmittage war die reinste Hölle, die Zeit verging nicht, und er war ständig gereizt.Doch dann wurde es wieder Montag, und der Verbitterte vergaß seine Symptome, auch wenn er schimpfte, daß er niemals Zeit hätte, sich auszuruhen, und sich darüber beklagte, daß die Wochenenden immer so schnell vergingen.”
“Sein Vater hatte ihn immer ermahnt, wie wichtig es im Leben war, Ziele zu haben. Ohne Ziel wurde man hin und her getrieben und am Ende des Lebens hatte man gar nichts erreicht. Hatte man sich aber ein Ziel gewählt und hielt verbissen daran fest, dann spannte sich eine für andere unsichtbare Schnur durch das Leben. Eine Rettungsleine, an die man sich bei jedem Sturm klammern konnte.”
“Ebenso hilft es der Seele nichts, wenn der Leib heilige Kleider anlegt, wie's die Priester und Geistlichen tun, auch nicht, wenn er sich in Kirchen und heiligen Stätten befindet; auch nicht, wenn er sich mit heiligen Dingen befaßt; auch nicht, wenn er leiblich betet, fastet, wallfahrtet und alle guten Werke tut, die in alle Ewigkeit durch und in dem Leib geschehen können. Es muß allemal noch etwas anderes sein, was der Seele Rechtschaffenheit und Freiheit bringen und geben kann. Denn alle diese genannten Dinge, Werke und Weisen kann auch ein böser Mensch, ein Gleißner und Heuchler an sich haben und ausüben, und durch so etwas entsteht auch kein anderes Volk als lauter Gleißner.”