“Ich liebte es, zu lesen und dabei zu essen. Ein Brot nach dem anderen, einen Keks nach dem anderen, süß und salzig im stetigen Wechsel. Es war wunderschön: Liebesgeschichten mit Gouda-Käse, Abenteuerromane mit Nuss-Schokolade, Familientragödien mit Müsli, Märchen mit weichen Karamellbonbons, Rittersagen mit Prinzenrolle.”
“Wie wahr waren Geschichten, die einem erzählt wurden, und wie wahr die, die ich mir selbst aus Erinnerungen, Vermutungen, Phantasien und heimlich Erlauschtem zusammenreimte? Manchmal wurden erfundene Geschichten im Nachhinein wahr, und manche Geschichten erfanden Wahrheit.Die Wahrheit war eng verwandt mit dem Vergessen, das wusste ich, denn Wörterbücher, Enzyklopädien, Kataloge und andere Nachschlagewerke las ich ja noch. Im griechischen Wort für Wahrheit, aletheia, floss versteckt der Unterwelt-Strom Lethe. Wer das Wasser dieses Flusses trank, legte seine Erinnerungen ab wie zuvor seine sterbliche Hülle und bereitete sich so auf sein Leben im Schattenreich vor. Damit war die Wahrheit das Unvergessene. Aber war es sinnvoll, die Wahrheit ausgerechnet dort zu suchen, wo das Vergessen nicht war? Versteckte sich die Wahrheit nicht mit Vorliebe in den Ritzen und Löchern des Gedächtnisses? Mit Wörtern kam ich auch nicht weiter. (S. 193)”
“Das Gehirn versandete wie ein unbefestigtes Flussbett. Erst bröckelte es nur ein bisschen vom Rand, dann klatschten große Stücke des Ufers ins Wasser. Der Fluss verlor seine Form und Strömung, seine Selbstverständlichkeit. Schließlich floss gar nichts mehr, sondern schwappte nur hilflos nach allen Seiten. Weiße Ablagerungen im Gehirn ließen die elektrischen Ladungen nicht durch, alle Enden wurden isoliert, und am Ende auch der Mensch; Isolation, Insel, Gerinnsel, England, Elektronen und Tante Ingas Bernsteinreifen, Harz wurde hart im Wasser, Wasser wurde hart, wenn der Frost klirrte, Glas war aus Silizium, und Silizium war Sand, und Sand rieselte durch die Eieruhr, und ich sollte jetzt schlafen, es wurde langsam Zeit. (S. 78f.)”
“Es ist ein Hin- und Hergerissensein zwischen Verheimlichung und Offenherzigkeit, zwischen dem Wunsch, die Wahrheit zu sagen, und dem Unvermögen, es auch in den intimsten Situationen zu tun; es ist die Erkenntnis, dass das Wesen der Liebe Wissen ist und das Ringen mit der Angst, mit der so großen Angst, sich eine Blöße zu geben. Wer schreibt, greift mit dem Stift nach der Macht, weil die Ohnmacht so unerträglich groß ist. Wer schreibt, hört für eine Weile auf, sich selbst Gewalt anzutun, zu leugnen, zu lügen, zu verschleiern und sich zu verstellen, hört mit all dem auf, wozu er sich gezwungen sieht, sobald die Angst zuschlägt was ein anderer mit ihm machen könnte. (Seite 38 / 39)”
“Mit der Zeit verwarf ich die Idee des Briefes und nahm an wenn schon sei es praktischer gleich mit dem Meisterwerk zu beginnen.”
“Immer wenn ich schwamm, fühlte ich mich in Sicherheit. Der Boden unter meinen Füßen konnte nicht weggezogen werden. Er konnte nicht brechen, nicht einsinken oder wegrutschen, weder sich auftun noch mich verschlingen. Ich stieß nicht gegen Dinge, die ich nicht sehen konnte, trat nicht versehentlich auf etwas, verletzte weder mich noch andere. Wasser war einschätzbar, es blieb immer gleich. Gut, mal war es klar, mal schwarz, mal kalt, mal warm, mal ruhig, mal bewegt, aber es blieb in seiner Beschaffenheit, wenn auch nicht in seinen Aggregatzuständen, immer gleich, war Wasser. Und Schwimmen, das war Fliegen für Feiglinge. Schweben ohne Absturzgefahr. Ich schwamm nicht besonders schön – mein Beinschlag war asymmetrisch – , aber zügig und sicher, und wenn es sein musste, auch stundenlang. Ich liebte den Moment des Verlassens der Erde, den Elementenwechsel, und ich liebte den Moment des Michverlassens darauf, dass das Wasser mich trug. Und, anders als Erde und Luft, tat es das ja auch. Vorausgesetzt, man schwamm.(S. 87)”
“In Marburg hat man kaum eine Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen. Erst recht nicht, wenn man sich sucht.”