“Heute habe ich, der Zoologe, gelernt: Die afrikanische Wüstenheuschrecke hat eine ostdeutsche Verwandte, die Bücherheuschrecke (Locusta bibliophila), eine Spezies auf zwei Beinen, gekleidet in „Wisent“- oder „Boxer“-Jeans, selbstgestrickte Rollkragenpullover und olivgrüne oder erdbraune „Kutten“ (Parkas). […] Die Locusta bibliophila ernährt sich von Büchern, allerdings nur von solchen aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Der Angriff der Bücherheuschrecke wird Wochen vor dem Leipziger Schlaraffenland-Ereignis generalstabsmäßig geplant […] Die Rüstung der Bücherheuschrecke (besagter „Messe-Mantel“, Typ Parka) wird etwa zwei Wochen vor der Schlacht einer gründlichen Überprüfung unerzogen; rechte Innenseite: in zwei Reihen nebeneinander je fünf Taschen, von Überbrust- bis in etwa Kniehöhe eingenäht (teilweise überlappend), Format 21 x 13 cm, die Leichtgängigkeit wird mittels des in der Pelzschneiderei „Harmonie“ befindlichen Exemplars Heinrich Böll, „Wanderer kommst du nach Spa…“ kontrolliert […]. Der Angriff der Bücherheuschrecke vollzieht sich in Wellen, sein unmittelbar bevorstehender Beginn wird dem scharfen Beobachter dadurch kenntlich, dass sich die ohnehin immer gierig blickenden Augen zu Hungerschlitzen verengen.”

Uwe Tellkamp

Uwe Tellkamp - “Heute habe ich, der Zoologe, gelernt...” 1

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“Tragische Schuld verkörpert sich im permanenten Konflikt zwischen der uralten religiösen Vorstellung von der Missetat als einer Beschmutzung, die einer ganzen Rasse anhaftet und unausweichlich von einer Generation auf die nächste vererbt wird [...], und dem neuen vom Gesetz übernommenen Konzept, nach dem der Schuldige definiert wird als Privatperson, die sich aus eigenem Antrieb und unter keinem Zwang stehend entschlossen hat, ein Verbrechen zu begehen.”

Jean-Pierre Vernant
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“Der Mensch hängt an dem Seinen, an sich selbst und dem Seinen, bis über den Tod hinaus und bangt davor, das Leben aus den Händen zu verlieren - dies Wirklichste von allem Wirklichen, dies Erbärmlichste von allem Erbärmlichen, dies Unendlichste von allem Unendlichen; bangt vor der Einsamkeit, auf der sein selbst beruht, die sein Selbst ist, bangt davor, ohne Mitmenschen ringsum zu sein - und vielleicht von Gott vergessen.”

Gunnar Gunnarsson
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“Vermutlich muss man geraume Zeit in der Haut eines Menschen verbringen, der einem nicht ähnelt, ehe man zu dem wird, der man ist. Oder vielleicht hat man auch all diese vielfältigen Figuren in sich und muss sich von einer befreien, ehe man zur nächsten werden kann.”

Benoîte Groult
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“Sich mit diesem oder jenem zu identifizieren, ist also ein normaler Vorgang. Gefährlich wird es, sobald eine einzige Identität bestimmend wird, sobald man nur noch Muslim ist oder Christ oder Deutscher, Iraner oder meinetwegen Anhänger eines bestimmten Fußballclubs oder eines Popstars. Dann wird aus der pragmatischen Einschränkung, die jede Art von Identifizierung bedeutet, eine reale Verstümmelung der Persönlichkeit.”

Navid Kermani
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“An Stelle des bloß kontemplativ 'anschauenden' Rezipienten (gemeinst ist Hanslick) wird darum mit der Tragödie auch 'der aesthetische Zuhörer wieder geboren', wobei der Gedanke wieder mit der Bildungskonzeption konvergiert: dieser wahre Zuhörer - nochmals der sokratischen Abstraktion in Sitte, Staat und Recht gegenübergestellt - ist befähigt, den Mythos als 'das zusammengezogene Weltbild' zu perzipieren, den ihm vor allem die nach-lutherische deutsche Musik vor Augen bringen soll, da sich der von der 'Wiedererweckung des alexandrinisch-römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert' bestimmte Kultur-Zeitraum zum Ende neigt. Es besteht also eine konstitutive Wechselbeziehung zwischen dem 'tragischen Mythus' und der 'rein aesthetischen Sphäre', in der sich nun die früher aufgestellte Hauptthese der alleinigen Rechtfertigung von Welt und Dasein als 'aesthetisches Phänomen', als Spiel des Willens mit sich selbst, erfüllt: dieses 'Urphänomen der dionysischen Kunst', sagt N., begreift sich allein aus der Bedeutung der 'musikalischen Dissonanz', da die Lust des tragischen Mythus und die der Dissonanz zusammenfallen.”

Henning Ottmann
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